Videoüberwachung: Privatsphäre oder Sicherheit? - Die Debatte im Überblick
Sobald wir über das Thema Videoüberwachung sprechen, bilden sich sofort zwei Lager. Die einen, die den Einsatz der Technologie unabdingbar für die Sicherheit der Bürger*innen halten und die anderen, die dadurch das Recht auf Privatsphäre im öffentlichen Raum gefährdet sehen. Das Format 13 Fragen von "unbubble" hat in der Folge mit dem Titel “Videoüberwachung: Sicherheit über Privatsphäre?” beide Perspektiven gegenübergestellt. Wir möchten euch jeweils die stärksten Agrumente der Pro und Kontraseite vorstellen und unsere Standpunkte teilen. Los gehts!
An der Diskussion teilgenommen und die Pro-Seite vertreten haben Tristan Horx (Zukunftsforscher), Melissa Enders (Frauen Union Mainz) und William Bobach (Polizist & Vertreter der Deutschen Polizeigewerkschaft). Auf der Contra-Seite positionierten sich Kristina Hatas (Amnesty International), Schorsch Kamerun (Sänger und Autor) sowie Nils Zurawski (Sozialanthropologe). Moderiert wurde das Gespräch von Jo Schück.
Warum brauchen wir Videoüberwachung?
Die Polizeigewerkschaft findet, sie würde helfen, Straftaten präventiv zu verhindern sowie die Strafverfolgung zu erleichtern. Weiterhin wolle man keine flächendeckende "Videoanalyse" - so bezeichnet es die Polizei - etablieren, sondern nur “neuralgische” Punkte (bspw. Bahnhöfe, Anm. von uns) überwachen. N. Zurawski entgegnete daraufhin, dass das Argument der Prävention durch Videoüberwachung bislang immer noch nicht belegt sei und sich die Zahl dadurch verhinderter Straftaten ohnehin nicht messen lässt.
Es gibt keine Beweise dafür, dass Videoüberwachung dem Ziel [der Prävention] in irgendeiner Weise gerecht wird.
Nils Zurawski, Kriminologe und Sozialanthropologe (3:14)
Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass wir die Sicht der Polizei, prinzipiell keine flächendeckende Überwachung umsetzen zu wollen, begrüßen. Trotzdem stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, da es immer noch um einen Eingriff in die Privatsphäre geht. Aufgenommen wird ja erst einmal jeder, egal ob berechtigt oder nicht. Wissen wir denn, dass wirklich ein so großer Teil der Straftaten an diesen “neuralgischen” Plätzen stattfindet? Oder doch im Privaten? Wir konnten dazu bislang keine Aussagen finden, auch die jährliche offizielle polizeiliche Kriminalstatistik des BKA (zu finden hier: Polizeiliche Kriminalstatistik 2022) liefert dazu keine konkreten Angaben.
Schutz vor Terrorismus
Ein weiterer Punkt: Beim Thema Prävention geht man ja davon aus, dass eine Tat geplant wird und der/die Täter*innen es sich dann beim Blick auf die Kameras anders überlegen. Nun findet aber nicht jede Straftat nach langer Vorbereitung statt. Auf Affekthandlungen, möglicherweise unter Drogeneinfluss (ja, auch Alkohol), wird Videoüberwachung wohl kaum Auswirkungen haben. Und geht es um diffusere Bedrohungen, wie den Terrorismus, brauchen wir uns wohl nicht dem Glauben hingeben, eine Tat aus religiösem Fanatismus oder politischer Motivation ließe sich verhindern, indem Moscheen, Synagogen oder Bahnhöfe lückenlos gefilmt werden. Im besten Fall ist es den Tätern egal, im schlimmsten Fall spornt es sie gar noch an. Diese Argumentation stammt nicht nur aus unserer Feder, sondern wird vom Datenschutzbeauftragten des Bundes so vorgebracht (zu lesen hier: Statement des BfDI zur Videoüberwachung).
Vorsicht vs. Weitsicht
Die Diskussion geht über zu der Frage, ob mehr Gefahr oder mehr Potenzial in der Videoüberwachung gesehen wird. K. Hatas (Amnesty International) antwortet darauf, dass die immer invasiver werdende Überwachung die Ausübung unserer Menschenrechte einschränkt. M. Enders (Frauen Union) hält dagegen, dass dies nur für autokratische Systeme gelte, aber nicht für funktionierende Demokratien wie Deutschland. Weiterhin müsse es in der Öffentlichkeit Plätze geben, an denen sich jede/r sicher fühlen kann und Gesichtserkennung soll dort die Arbeit der Polizei unterstützen.
Die Überwachung wird invasiver, zum Beispiel dadurch, dass [...] künstliche Intelligenz eingesetzt wird. Das heißt, am Ende haben wir ein Bild, wo jeder Mensch und jede Bewegung nachvollziehbar werden. Das heißt, es gibt keine Anonymität mehr im öffentlichen Raum.
Kristina Hatas, Amnesty International Deutschland (5:09)
Wir finden, das Problem der Überwachung ist ja gerade, dass es für bis dato demokratische (oder annähernd demokratische) Systeme einfacher wird, zu Autokratien zu werden, wenn solche Systeme einmal etabliert sind. Mehr Überwachung macht eine Gesellschaft nicht automatisch resilienter, sondern enthält möglicherweise einen potentiell verstärkenden Effekt, der in gegenteiliger Richtung wirken kann. Letztendlich hängt die rechtmäßige Verwendung solcher Mittel von der Rechtmäßigkeit derer ab, die die Kontrolle über sie haben. Auch in unserer Demokratie laufen alle Fäden in letzter Konsequenz bei der Regierung zusammen. Und ohne jemandem Böses von vornherein unterstellen zu wollen, Gesetzesregelungen, wie bspw. die Vorratsdatenspeicherung, die zuletzt vom EuGH gekippt wurde, legen nahe, dass es bei der Ausarbeitung solch weitreichender Entscheidungen nicht selten an Weitsicht fehlt.
Kosten und Nutzen
M. Enders wird anschließend direkt gefragt, warum sie, bzw. die Frauen Union, sich für Videoüberwachung einsetzt. Sie gibt an, dass es vor allem um vulnerable Gruppen wie Frauen und Kinder gehe, für die in der Öffentlichkeit Schutzräume geschaffen werden sollen. K. Hatas findet diese Argumentation nachvollziehbar, wünscht sich aber andere Maßnahmen, wie bessere Beleuchtung oder Ansprechpersonen, die Situationen entschärfen können. Enders entgegnet hierauf, dass die Videoüberwachung gepaart mit Gesichtserkennung wahrscheinlich den besten Kosten-Nutzen-Faktor darstelle und somit die günstigste Lösung sei.
Wir haben mit Frauen und Kindern einfach eine extrem vulnerable Gruppe, die auch oft im öffentlichen Geschehen vergessen wird.
Melissa Enders, Frauen Union der CDU (6:32)
Kameras, dein Freund und Helfer
Mit der Kosten-Nutzen-Betrachtung haben wir aus verschiedenen Gründen ein Problem. Zum einen können wir nicht nachvollziehen, wie der Kosten-Nutzen-Faktor ermittelt werden soll, wenn es gar keine Belege für eine positive Wirkung von Videoüberwachung gibt. Vor allem, wenn man das Argument der Prävention bemüht, die im Prinzip nicht quantifizierbar ist. Zum anderen stellt eine Zentrale “Macht”, die nur durch anonyme Technologie personifiziert ist, keine adäquate Ansprechstelle oder eine Schnittstelle zwischen Staat und Bevölkerung dar. Sie riskiert sogar, diese Kluft durch Entfremdung noch zu vertiefen. Der Staat wird dann nicht mehr durch Personen, sondern nur noch durch Technik dargestellt. Die emotionslose Kamera am Laternenpfahl bietet auch keinen Schutz, wenn eine Straftat tatsächlich stattfindet. Sie kann maximal die Ermittlung der Täter unterstützen.
Ist die gefühlte Unsicherheit begründet?
Als nächstes steht die Frage im Raum, ob sich Menschen zu Recht unsicher fühlen. T. Horx (Zukunftsforscher) weist darauf hin, dass man statistisch in Deutschland so sicher ist wie noch nie. Er gibt außerdem zu bedenken, dass viele Menschen im Internet viele Informationen freiwillig preisgeben, sich dann aber über die Kamera in der Öffentlichkeit beschweren. Gleichzeitig verweist er auf London, eine der Großstädte mit der meisten Videoüberwachung und argumentiert, dass sich auch dort noch keine “Orwell’sche Dystopie” entwickelt habe und Kriminalität immer noch ein Problem sei.
Sicherheitsgefühl kann man sowieso nie wirklich perfekt kreieren. Weil je sicherer es ist, desto unsicherer fühlen wir uns paradoxerweise ganz oft.
Tristan Horx, Trend- und Zukunftsforscher (9:56)
Leben in einer Dystopie
Erst einmal ist das Problem der kognitiven Dissonanz tatsächlich weit verbreitet. Menschen trinken Fair-Trade-Kaffee aus Recycling-Bechern, während sie alleine mit dem SUV durch die Stadt zur Arbeit fahren. Man nutzt eine VPN-Verbindung, um sich mit der Mailadresse einen Rabattcode zu sichern. Das ist häufig so, müsste aber nicht so sein.
Horx’ Argument, London sei trotz Videoüberwachung ja auch keine Dystopie, klingt augenscheinlich positiv. Die eigentliche Frage ist doch aber, was hat es denn tatsächlich gebracht? Immerhin geht es um Eingriffe in die Privatsphäre! Die Tatsache, dass es ja nicht schlimmer geworden ist, kann ja keine Begründung für Videoüberwachung sein. Horx weist ja darauf hin, dass die Kriminalität noch immer ein Problem darstellt, wo liegt hier also der Vorteil?
Mehr Videoüberwachung, weniger Polizei?
Auf die Anmerkung von N. Zurawski folgend, dass die inhaltliche Kopplung der Themen Sicherheit, Kriminalität, Angst und Überwachung sehr unglücklich sei und Ängste mobilisiere, richtet sich die Frage "Wird mit den Ängsten der Menschen gespielt?” wieder an W. Bobach. Dieser entgegnet erneut, dass man eigentlich keine Überwachung wolle und Videoüberwachung abschaffen bzw. minimieren könne, wenn es genügend Polizisten gäbe. Es geht primär um eine teilautomatisierte Videoanalyse, bei der die finale Entscheidung durch die Beamten (Polizist*innen, Anm. von uns) getroffen werde.
Wenn wir genügend Polizeikräfte auf den Straßen hätten, könnten wir natürlich Videoanalyse sein lassen oder minimieren.
William Bobach, Bundespolizist und Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft (10:25)
Für uns stellt sich die Frage, wie lange diese Analyse denn teilautomatisiert bleibt. Das Ziel jeder technischen Neuerung ist doch i.d.R. sie irgendwann selbstständig arbeiten lassen zu können. Wie viel Personal wird bei steigender und ggf. flächendeckender “Analyse” gebunden? Wird es nicht realistischerweise dazu führen, dass sich die Polizeipräsenz sogar verringert, weil man sagen kann “wir haben doch die Analyse, wir brauchen weniger Leute vor Ort”.
Mensch vs. Maschine
Im Zuge eines weiteren Austausches zwischen Bobach, Kamerun, Enders und Zurawski, die sich darum dreht, dass Polizist*innen eine andere Art der Interaktion und Verhandlung ermöglichen, als Kameras, bringt T. Horx ein interessantes Argument zur Sprache: Seiner Meinung nach geht es im Grunde um eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, in der die Maschine mit denselben Vorurteilen operiert, wie die Menschen. Eine Verbesserung der Maschine gehe mit einer Verbesserung der Gesellschaft einher. Interessant ist der Punkt insofern, dass in vielen Versuchen ja tatsächlich festgestellt wurde, dass Algorithmen die gleichen “Ansichten” haben wie die Menschen, die sie programmieren. Das führte schon häufig zu rassistischen Einordnungen von People of Color und Minderheiten.
Mit KI kann ich nicht verhandeln. Das sind Algorithmen, das ist ein Programm und ich hab gar keine Ahnung, wie das funktioniert [...]. Wie gehe ich damit um?
Nils Zurawski, Kriminologe und Sozialanthropologe (25:03)
Dass hier eine gesellschaftliche Transformation hin zu mehr Offenheit dringend passieren muss, steht außer Frage. Was aber gefragt werden muss ist, warum gerade Überwachung der Auslöser für diese Transformation sein soll. Überwachung geht einher mit Misstrauen. Und Misstrauen ist nicht gerade bekannt dafür, eine gute Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen zu sein. Zumal Länder mit starken Überwachungsstrukturen eher das Gegenteil demonstrieren (China - Uiguren, Social Credit Score; England/Amerika - Anti-LGBTQ+-Tendenzen etc.). Und die Aussage, die Videoanalyse sei nur eine Mensch-Maschine-Schnittstelle, ist aus technologischer Sicht sicherlich richtig, greift aber zu kurz. Denn tatsächlich ist sie eine Schnittstelle zwischen Bürger und Regierung, eine distanzierte und emotionslose Version von Staatsgewalt. Welches Verhältnis entwickelt sich zwischen beiden Parteien, wenn der Staat, statt den direkten Kontakt zur Bevölkerung zu suchen und nahbar zu sein, die “Massen” aus einer Art “Panic Room” heraus beobachtet, um nur im Notfall die Interaktion einzugehen?
Ich empfinde diese Vorstellung, tatsächlich über Bewegungsmuster Dinge zu erkennen und dann zu entscheiden [...] immer noch gruselig. Ich werde mich ab jetzt noch unsicherer fühlen [...] auf einen Platz zu gehen, wo ich weiß, dass mir eine Kamera und dann am Ende möglicherweise eine Software und dann vielleicht noch ein Beamter zuschaut, wie ich mich gerade [...] verhalte.
Schorsch Kamerun, Sänger und Autor (21:30)
Unser Fazit: Es braucht mehr Regelungen, mehr wissenschaftliche und evidenzbasierte Diskussion und vor allem mehr Fragen. Wir möchten Euch hier nochmals einladen uns bei unserem Vorhaben, Privatsphäre tragbar zu machen, zu unterstützen. Wir freuen uns auf tolle und inspirierende Diskussionen in der Zukunft.
Disclaimer: 13 Fragen hatten uns vor einiger Zeit angefragt, ob wir Lust haben, an der Ausgabe teilzunehmen. Es fand auch ein Vorgespräch mit Nicole statt, final hat man sich aber für andere Teilnehmer entschieden.
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